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Thomas Mann und die Homosexualität


Empfohlener Beitrag

Geschrieben

"Ihr fehlt der Segen der Natur und des Lebens-das möge ihr Stolz sein,ein allerschwermütigster Stolz,
aber sie ist gerichtet damit,verworfen,gezeichnet mit dem Zeichen der Hoffnungslosigkeit und des Widersinns. Nicht- Segen, das ist Unsegen,ist Fluch, wo es sich um Natur und Leben handelt; und ein Fluch schwebt unverkennbar über dieser freien, allzu freien Liebe."
So der Nobelpreisträger Thomas Mann, selbst homosexuellen Versuchungen sehr ausgesetzt.Drei seiner sechs Kinder waren schwul. Dennoch kommt er zu dieser Einschätzung.Wie beurteilt ihr sie?


Geschrieben

@Nuwas, das ist ein Thema so recht für Minotaurus, der weiß mit Sicherheit eine Antwort.Lassen wir ihn erst einmal zu Wort kommen, bis wir darauf antworten können. Allerdings muss man auch die Zeit berücksichtigen in der Thomas Mann gelebt hat. Wir haben seine Bücher zum Teil gelesen, weil wir hofften etwas über Homosexualität zu erfahren, gab es doch bis zur Aufhebung des § !75, so gut wie keine schwule Literatur. Ich vermute, dass Thomas Mann in einem Zwiespalt mit seiner eigenen Seualität lebte.
Wie viele Schwule gibt es auch heute, die verheiratet sind und damit mehr oder weniger zufrieden sind?
Ähnlich wie im "Tod in Venedig", habe ich in meiner Jugendzeit hübsche, junge Männer bewundert, von ihnen geträumt, mich aber niemals getraut , mich zu outen.


Geschrieben

@Sunrise
In diesem Forum wurde die christliche Ablehnung der Homosexualität immer wieder scharf angegriffen. Mir kam es darauf an, die Einschätzung eines bedeutenden und sicher kenntnisreichen Mannes zu zitieren. Die Frage richtet sich an alle, es ist keine Frage der "Bildung".


Geschrieben

Zur Ergänzung des Threads ein Buchhinweis:
Gerhard Härle, "Männerweiblichkeit - Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann", Berlin 2002,
ISBN 3-8257-0284-7


Geschrieben

@ Nuwas
Deine Frage an Alle richtet sich auch an mich--die geistesgröße Thomas Mann war nicht nur auf dem Olymp angesiedelt,sondern für mich auch ein Mensch mit all seinen Unzulänglichkeiten--@ Sunrise weist auf den
" Tod in Venedig " hin, wo der Nobelpreisträger seine Sehnsucht nach männlicher Liebe zu erkennen gibt und an anderer Stelle in aller Deutlichkeit seine Sexualittät preisgibt mit dem Satz: " Ich lehne es ab mit nicht eregierten Penis zu Onanieren " .Damit gibt er seine Menschlichkeit zu erkennen und das er Teil dieser Menschheit in all ihrer Unvollkommenheit ist.


Geschrieben

@fellatio
Danke für deinen Beitrag. Vielleicht denkst du, ich wollte hier im Namen des Christentums oder irgendeiner Moralvorstellung zur schwulen Zerknirschung aufrufen. Ich hab mit Selbsthass nichts auf dem Hut, aber auch nichts mit problemfreier Direktheit. Ich weiß nicht, ob Mann "unzulänglich" war und "unvollkommen".Bloß weil er junge Männer liebte?
Woher hast du das Zitat?


Geschrieben

@ Nuwas Ich hab Deinen Beitrag keineswegs als Aufruf zur schwulen zerknirschung Empfunden und .sehe die Menschheit unvollkommen,in deren Mitte Thomas Mann lebte,ein Teil von ihr war und sie beschrieb.
Nach " Der Tod in Venidig " ist " Der Zauberberg " für mich wichtig, mit seinen komplexen Inhalten und Zeitbeschreibung, d e r Bildungsroman,während " Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull eher eine Persiflage
auf den Bildungsroman ist--Ich hab im Beitrag oben meine Meinung geaüßert--das Zitat mit dem Onanieren ist
Allgemeingut....


Geschrieben

Wir können an dieser Stelle nun manches Wissenswerte über den Dichter Th. Mann sagen, aber zunächst sollte man sich seinem Urteil über die Homosexualität stellen. Dieses ist ja durchaus differenziert.Er billigt ihr ja Stolz und Freiheit zu, aber es scheint doch, dass die Kritik schwerer wiegt: Das Schwulsein ist ein Fluch,die Schwulen müssen auf den "Segen" der Natur und des Lebens verzichten. Hier spricht kein Kirchenmann, aber sein Urteil ist von einer religiösen Strenge.
Man kann da nicht in billige Kritik an den Pfaffen ausweichen.Hier geht es ums Ganze.


Geschrieben

Wer sich über die doch reichlich verklemmte Einstellung von Thomas Mann zu seiner Sexualität (und nicht nur dieser) wirklich umfassend informieren möchte, sollte die Mühe nicht scheuen und die zehn Bände Tagebücher durchforsten.
http://www.amazon.de/Tageb%C3%BCcher-Sonderausgabe-Bde-Thomas-Mann/dp/3100482808

Nebenbei: Sogar Manns Frau Katja fiel die stark homoerotische Komponente im "Felix Krull" auf.


Geschrieben

Ja, lieber Minotaurus. Ich habe die Bände und ich habe sie durchforstet. Dabei hat Mann die Bände bis 1933 (mit einer Ausnahme) vernichtet.Er zitterte vor Angst, sie könnten den Nationalsozialisten in die Hände fallen oder Sohn Golo könnte sie lesen. So verbrannte er sie. Die ganze Familie Mann scheint die Orientierung des Familienoberhauptes gespürt zu haben. Man machte oft Scherze darüber.
Aber alles das hilft nicht. Der weltberühmte, sehr kluge Autor formuliert seine Erfahrungen mit seinem "Sosein" und dem seiner Kinder ( deren Treiben er in bewundernswerter Weise tolerierte).Es war sicher nicht leicht, immer wieder erleben zu müssen, dass Sohn Klaus morgens neben starken, aber auch einfältigen Typen aufwachte und dann verprügelt wurde. Sohn Golo brachte den vitalen Ed mit, Erika die Freundin Giehse.
Wie stellen wir uns zu seinem Urteil aus vielen Erfahrungen? Macht man es sich mit dem Urteil "verklemmt" nicht etwas zu leicht?


Geschrieben

Die unbezweifelbaren Neigungen eines Ehemannes und sechsfachen Vaters hin zum "anderen Ufer" würde ich nicht einfach mit dem Wort "verklemmt" bezeichnen. Von welchem Alter an er sie gespürt hat und wie stark sie waren, wissen wir nicht; augenscheinlich aber früh und intensiv, denn die Beziehung Hanno Buddenbrooks zu dem kleinen Grafen aus verarmtem Geschlecht atmet schon den Duft einer pubertären Erotik. Möglicherweise waren sie sein Dämon, den er durch das Werk auszutreiben, dessen Wirken er aufzuheben trachtete. Anders ist die ewige Wiederkehr des Themas kaum zu erklären. Dies ist übrigens eine besondere Form der Offenheit für den, der zu lesen versteht, und keine Verklemmtheit, während die sehr "offene" Art des modernen, seiner selbst so gewissen Schwulen von dem distanzierten Dichter sicherlich perhorresziert worden wäre.


Geschrieben

Es böte sich an, in diesem Zusammenhang den (literarischen) Umgang mit der homoerotischen Neigung des jeweiligen Autors zu untersuchen und zu vergleichen. Ob nun W.H. Auden, Stephen Spender, Gore Vidal ("Geschlossener Kreis" ) und Tennessee Williams einerseits, oder andererseits der ebenfalls verheiratete André Gide ("L'immoraliste", "Corydon" ), Julien Green, Genet, Gombrowizc, Hesse, Pasolini, Allen Ginsberg und viele andere. Nicht zu übersehen für den deutschen Sprachraum natürlich auch Hölderln ("Hyperion" ) .
Denn gar so ungewöhnlich ist das Einfließen homoerotischer Anspielungen, gar direkter Bezugnahme, keineswegs. Wenn Th. Mann in seinen Tagebüchern jeweils ein Kreuzchen macht, um seine Masturbation an diesem Tag zu kennzeichnen, dann hat das einen fast spitzbübischen Charme. Mit seinen (in den Werken) klar zutage tretenden homoerotischen Empfindungen indes, hatte der Großbürger Mann seine liebe Mühe und Not. Die Homoerotik war für ihn und sein den bürgerlichen, deutschen Tugenden des 19. Jahrhunderts verpflichtetes Weltbild ein Störfaktor. Besonders fällt das auf im Vergleich zu den zeitgleichen französischen Autoren.


Geschrieben

@Minotaurus
Wie kommen Sie auf Hölderlin? Ich habe noch nie gehört, dass der Autor in dieser Hinsicht verdächtigt wurde.
Der Freundschaftskult der Alabanda-Episode war dem Zeitgeist geschuldet. Die anderen Autoren haben sich ja klar ausgesprochen.


Geschrieben

@Nuwas: Völlig richtig. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war es übrigens nicht unüblich, dass Freunde einander küssten und Liebesschwüre leisteten, ohne dass dieses Gebaren homoerotische Hintergründe hatte. Hyperions Briefe an Bellarmin sind ergo, wie Du schreibst, "dem Zeitgeist geschuldet".


Geschrieben

Während bei Thomas Mann in seinen Werken die latente Homosexualität zu spüren ist,hat mich Jaen Genet mit seinem ersten Roman " Notre-Dames-Des-Fleurs "mit voller Wucht getroffen. Danach kam " Querelle de Brest ".der juristische Streit um Obzönität oder L:iteratur--Beide Autoren in jungen Jahren gelesen,waren eine Offenbarung und
wichtige Aufklärer,die den Wissensdurst anheizten und mit anderen Schriftstellern der Selbsterkenntnis dienten.
Ein untersuchender Vergleich,von Minotaurus vorgeschlagen,wäre vielversprechend.


Geschrieben

Aber, aber, meine Herren Hölderlin-Verteidiger. Schon Ihre Entrüstung zeigt, wie sehr Sie noch eingesponnen sind in die bürgerliche, vorzugsweise der christlichen Verdammung geschuldeten Minderachtung homoerotischen Begehrens. Es sind Hölderlins eigene, im "Hyperion" wiederholte Worte der Verzweiflung, warum man nicht eine Frau (in diesem Fall Susette Gontard, die "Diotima" ) und gleichzeitig einen Mann (in diesem Fall Isaac von Sinclair, der "Alabanda" ) lieben könne. Der Freund und Geliebte Hölderlins, der spätere homburgische Geheimrat von Sinclair, der u.a. sein Minifürstentum auf dem Wiener Kongress vertrat, war nicht nur Gönner, Helfer, Arbeitsbeschaffer (die Hauslehrerstellen in Frankfurt und Bordeaux) und Geldgeber (Hölderlins Bibliothekarsstelle in Homburg bezahlte Sinclair aus eigener Tasche) . Die gemeinsam verbrachte Zeit in Sinclairs Homburger "Gartenhaus" spricht eine mehr als eindeutige Sprache. Die Mütter Sinclairs und Hölderlins (siehe deren langjährigen Briefwechsel) waren sich der erotischen Komponente dieser Männerliebe durchaus bewusst. Es war eben nicht nur die in der Zeit der Romantik übliche schwärmerische, sentimentgetränkte "Freundschaft" und schon gar kein pubertäres Erproben. Das vor allem von konservativen, bildungsbürgerlichen Kreisen bis heute salvierend gemeinte Anführen des "dem Zeitgeist geschuldet" ist eine Tünche, um die Realität homoerotischer Beziehungen leugnen zu können. Da wird dann (übrigens bis heute in Festreden) herumgesäftelt von einer "engen Lebensgemeinschaft" wie bei den Malern Anton Braith und Christian Mali, die sogar auf ihren Wunsch hin in einem Doppelgrab beerdigt wurden.

Hermann Hesse, ein großer Hölderlin-Verehrer, wusste sehr wohl (seinen eigenen schriftlichen Einlassungen zufolge) , warum er dem Erzähler und angeblichen Verfasser des "Demian" den Namen "Emil Sinclair" beigelegt hatte. Diese Liebesgeschichte zweier jungen Männer (nichts anderes ist der "Demian" ; siehe dazu auch meine Rezension bei Amazon zu dem Buch "Der archetypische Heilsweg" von G. Baumann) hat unübersehbare Parallelen zu der Hölderlin-Sinclair-Beziehung.

Nebenbei: Dass Isaac von Sinclair, damals schon erster Hofbeamter in Homburg, auf einen sehr schönen, jungen, aber durchtriebenen Hochstapler hereinfiel, in den er vernarrt war, und deshalb auf politischen Druck des Hauses Württemberg fünf Monate wegen Hochverrat inhaftiert wurde, das steht allerdings nicht bei Wikipedia....

Sprache, lieber "Nuwas", ist etwas ungemein Verräterisches. Denn wenn Sie schreiben, dass Hölderlin nie "in dieser Hinsicht verdächtigt wurde" , dann heißt das zu gut Deutsch, dass homoerotisches Empfinden eben doch ein Makel ist, den es auf alle Fälle zu verbergen gilt. Schließlich wird jemand eines Bösen, einer unerlaubten Tat,. zumindest aber eines Unanständigen "verdächtigt". Niemand wird "verdächtigt", eine lyrische Begabung zu besitzen oder gütig und zuvorkommend zu sein, wohl aber ein Schuft, ein Grobian zu sein oder eben homoerotische Neigungen zu haben. Gerade den "Verdacht" letzteres zu haben, fürchtete der gute Thomas Mann, der noch ganz befangen war im sozialnormativen Korsett seines Bürgertums, aus dem zeitweise sich zu lösen auch das literarische Schaffen ein Hilfsmittel war.


Geschrieben

@Minotaurus Es ist Ihnen hoffentlich bewusst, dass wir hier unter dem Damokles-Schwert der Admins diskutieren. Wenn diese nicht längst das Interesse an diesem Thread verloren hätten, wäre ihnen nicht entgangen , dass wir ein wenig vom Thema abgekommen sind.- Aber zur Sache: Man sagt "Dem Reinen ist alles rein". Mag sein, aber wahrer ist noch der Satz "Dem Schwulen ist alles schwul!" Überall wittert er schwüles Gedünst, und am Ende verwandelt er die Weltgeschichte in ein Panoptikum offener oder versteckter Homosexuellen. Vor allem die Genies haben es ihm angetan. Sie müssen für die gute Sache vereinnahmt werden.
Hölderlin hielt sich dreimal bei Sinclair in Homburg auf, 1795 ("Gartenhaus"), 1798, später dann wieder 1804.
Was Sie über eine schwule Beziehung Hölderlins zu Sinclair schreiben, hält keiner Nachprüfung stand. Es ist wahr, dass Sinclair mit Wissen des Landgrafen von Homburg Hölderlin einen Gehaltszuschuss abgetreten hat, um ihm ein Auskommen als "Bibliothekar", fern von der eifersüchtig wachenden Mutter, zu ermöglichen. Hölderlin war damals in einem Zustand nahe dem Wahnsinn, und Sinclair durfte hoffen, beruhigend auf ihn einwirken zu können. Da in seiner Abwesenheit seine (Sinclairs) Mutter auf Hölderlin aufpassen musste, erklärt es sich leicht, dass Hölderlins und Sinclairs Mutter von der Freundschaft der beiden wenig begeistert waren. Was sich in dem Gartenhaus abgespielt hat, bleibt Sache unserer möglicherweise wenig objektiven Phantasie.
Viel Wert legen Sie auf den Lotteriebetrüger Blankenstein, der mit seinem gewinnenden Äußeren Sinclair umgarnt haben soll.Es ist eher anzunehmen, dass die gemeinsame Konfession sowie auch politische Überzeugungen zu dem anfangs guten Verhältnis geführt haben. Blankenstein zerstörte es dann durch eine gemeine Denunziation.Daraufhin kam Sinclair wegen Vorbereitung eines Attentats in Haft, nicht weil er in einen jungen Mann verliebt war.
Schließlich hat das Wort "lieben" eine vielfältige Bedeutung. Der Trostbrief Sinclairs beim Tode von Hölderlins Geliebten Susette Gontard gibt da Aufschluss."So schrecklich mir die Nachricht ist,...,so kann ich doch nicht das dem Zufall überlassen,wogegen die Hilfe der Freundschaft zu gering ist....Der edle Gegenstand deiner Liebe ist nicht mehr,aber er war doch dein, und wenn es schrecklicher ist,ihn zu verlieren, so ist es kränkender,nicht der Liebe würdig geachtet zu werden. Jenes ist dein, dies ist mein Schicksal". Ich glaube kaum ,dass er damit dem Freund vorwerfen wollte, seine Liebe zurückgewiesen zu haben.
Zum Schluss noch zu Ihrem Vorwurf ,meine Sprache verrate mich,da ich ja darauf hingewiesen hätte, Hölderlin sei nie der Homosexualität "verdächtigt " worden. So ist allerdings die Perspektive der Welt,diese Perspektive habe ich mit dem Prädikat festgehalten. Das ist aber nicht meine Sicht der Dinge.Seit meiner Jugendzeit bin ich ein Verehrer Hölderlins ,und nichts wäre mir lieber gewesen als ihn auf unserer Seite zu sehen. Dem ist aber leider nicht so.


Geschrieben

@Nuwas
Es wird wohl kaum, sofern die administrativen Aufpasser sich nicht gerade in ein literaturgeschichtliches Minenfeld begeben wollen, eine Ermahnung, gar Löschung dieses Threads wegen angeblichen Offtopics geben. Insofern kann ich Sie und die Mitleser gerne beruhigen.

Was nun Hölderlin, Sinclair und den bildhübschen Hallodri Blankenstein anbetrifft, so will mir scheinen, Sie neigten dazu, aus menschlichen Beziehungen jede nur denkbare homoerotische, vielleicht sich sogar körperlich manifestierende Komponente auszublenden. Ist's denn wirklich so ein schrecklicher Gedanke, einen Geistesheros wie Hölderlin (oder andere Größen) sich auch vorzustellen als saufenden, schmatzenden, rülpsenden Jungmann, der sogar Erektionen bekommt? Und das Vergnügen an selbigen mit einem Gefährten des eigenen Geschlechts teilt? Gewiss - der konservative und wie Th. Mann verklemmte Bildungsbürger windet sich und möchte am liebsten gar nichts wissen von den allzu menschlichen Regungen und Anfechtungen, denen künstlerische Genies eben auch ausgesetzt sind.

Es ist das üble Erbe der christlichen Theologie, die Leib und Seele getrennt hat - der schnöde, sinnliche und vergängliche Leib und die unsterbliche, geistige, dereinst zu Gott emporschwebende Seele. In dieses fast zweitausend Jahre gehätschelte Klischee passt es selbstverständlich überhaupt nicht, wenn der erschreckte Bürger etwas lesen muss von "Gliedermessen" im Mitschülerkreis an der Hohen Karlsschule, wie das Schiller - die unantastbare Denkmalsfigur - in seinem vorwurfsvollen Brief an seinen geliebten Freund Scharffenstein 1776 ausführlich beschreibt. Zufall kann es sein, dass ausgerechnet dieser Schiller in seinem Fragment gebliebenen Drama "Die Malteser" ein männliches Liebespaar die Hauptfiguren sein lässt. (Dazu lese man Schillers Anmerkungen über den genuin erotischen Charakter dieser Liebe).

Wer gelernt hat, literarische Texte psychogrammatisch zu durchleuchten, wird sehr schnell die teilweise homoerotische Unterfütterung in Hölderlins "Hyperion" herauskristallisieren können. Dazu bedarf es keiner vorgefassten Meinung, keiner biographischen Kenntnisse über Hölderlins Beziehung zu Sinclair, aber eben auch keiner abwehrenden Haltung, die alles nur einem gewissen "Zeitgeist" zuschreiben will. Diese Art der generellen Abwehr ist schlicht intellektuell unehrlich, zeigt jedoch sehr deutlich die Minderachtung gegenüber homoerotischer Empfindung. In diese Verleugnungskerbe hat Thomas Mann erst recht gehauen mit seinem Verdikt (siehe den Eingang dieses Threads) :"Ihr fehlt der Segen der Natur und des Lebens" . So abfällig über die eigene Empfindungsbreite und die eigenen Gefühle zu urteilen, kann nur jemand einfallen, der die christlich zementierte Geschlechterrollenzuordung als metaphysisches Gesetz, sprich. göttlichen Willen, akzeptiert und verinnerlicht hat.

Völlig außer Frage steht, dass Sinclair homoerotisch empfunden hat, selbst jedoch seine inneren Schwierigkeiten damit hatte, wie Zeitgenossen berichteten. Zur weiteren Beschäftigung mit der Beziehung Hölderlin - Sinclair empfiehlt sich die Lektüre der umfangreichen, mit einem hervorragenden Anmerkungsteil und textkritischen Apparat ausgestatteten Arbeit von Ursula Brauer, "Isaac von Sinclair - Eine Biographie" , Stuttgart 1993, Schriften der Hölderlin-Gesellschaft Band 15


Geschrieben

@Minotaurus
Ich danke sehr für Ihre großzügige Antwort. Ja, Sie haben schon in einem Recht, bei dem Namen Hölderlin höre ich Wagner- Tuben oder die erhabene Musik Bruckners.Aber Sie übertreiben etwas. So körperfern , chemisch "rein" stelle ich mir die Genies gar nicht vor. Schillers "Malteser"-Fragment ist mir schon längst aufgefallen,ich habe auch auf ein Mittagessen in der Uni verzichtet, um das dtv-Bändchen kaufen zu können."Dem Schwulen ist alles schwul", das gilt natürlich zuerst mir, und nur deshalb konnte ich es Ihnen frech vorhalten.- Ich kann nicht feststellen, was mit Sinclair war, bei Wikipedia habe ich gelesen, dass er schließlich im Bordell vom Tod erreicht wurde. Das heißt nicht viel, das geschah auch Eminenz Danielou bei dem verzweifelten Kampf um die Seele der verworfenen Frauen.
Mir bleibt noch ein Problem, und das führt uns zum eigentlichen Thema des Threads zurück: Sie neigen dazu, das Jahrtausendproblem des Verhältnisses von Seele und Körper für ein Erzeugnis christlicher Denkweise zu halten.Da sich nach landläufiger Meinung das Christentum allmählich auflöst, könnten wir auf ein Zeitalter der fröhlichen Leibbejahung hoffen. Mir scheint nun, dass das Christentum nur eine (vielleicht die exponierteste) Weltanschauung ist, die in massiver Weise Seele und Leib trennt. Manche Christen bestreiten sogar das.
Vielleicht denkt Th. Mann gar nicht christlich, ist nicht Opfer einer jahrtausendelangen Fahrt in die falsche Richtung (Jahnn).Vielleicht zeigt er uns seine Wunden, spricht ein warnendes Wort, aus vielfältig erlittener Erfahrung, aus dem eigenen Leiden und dem seiner Kinder. Ich finde, dass sein obiges Diktum zu glaubwürdig, zu schmerzlich, zu differenziert ist, um hier von uns als christliche Verirrung abgetan zu werden.


Geschrieben

Die europäischen Sozial- und Kulturnormen, ebenso wie die Arbeitsethik (siehe Max Weber) und die Vorstellungen der Geschlechterrollen fußen auf der Grundlage christlicher Anschauungen, die sowohl von dem Apostel Paulus als auch von den diversen Kirchenvätern postuliert worden sind. Sogar Sigmund Freud ist noch der These aufgesessen vom aktiven, weil penetrierenden Mann und der passiven, zur Duldung und dem Erleiden bestimmten Frau. Dieses immer wieder mit allerlei pseudobiologistischen Argumenten untermauerte patriachalische Weltbild ist von Thomas Mann nie in Frage gestellt worden - im Gegenteil. Er war, und fühlte sich auch so, ein Patriarch, der dieses von ihm internalisierte Rollenkonstrukt lebte und dem deshalb auch besonders schwerfiel, mit seinen homoerotischen Gefühlen souverän und unvoreingenommen umzugehen. Dass ein Patriarch wie er - in seinem Selbstverständnis eine geradezu biblische Vorbildfigur - natürlich eine Familie mit reichlich Kindern haben müsse, gehört in diese Vorstellungswelt Manns. Deshalb nimmt's nicht Wunder, dass er sechs Nachkommen in die Welt gesetzt hat.

Um's salopp zu sagen: Bumsen für die Dynastie ist ein jahrhundertealter Brauch, dem sich selbst die nicht zu entziehen vermochten, die keinerlei erotische Affinität zu Frauen hatten. Ein Paradebeispiel hierfür ist wohl "Monsieur", Herzog von Orleans, der Bruder des Sonnenkönigs, der schwul war und gleichzeitig ein übertriebener Frömmler. Um seine Ehefrau Liselotte von der Pfalz begatten zu können, rieb er sein Glied zuvor mit einem Rosenkranz. Die so erzeugte Erektion reichte immerhin, denn sein solchermaßen gezeugter Sohn Philipp wurde nach dem Tod Ludwigs XIV. Regent von Frankreich, die auch in der Kunstgeschichte bedeutsame Epoche der Régence.

Nun wird Thomas Mann solch herzogliche Hilfsmittel wahrscheinlich nicht nötig gehabt haben. Doch dass Mann erhebliche innere Schwierigkeiten hatte mit der Homoerotik generell, zeigt sich allzu deutlich in den Auseinandersetzungen mit seinem offen schwulen Sohn Klaus. Sicherlich ist Thomas Mann kein Vorwurf daraus zu machen, sich aus seinen patriachalisch verfestigten, normativ heterosexuell ausgerichteten Vorstellungswelten nicht lösen zu können. Als Gewährsmann für einen unbefangenen Umgang mit homoerotischen Gefühlen, gar als höchstrichterliche Instanz über Homoerotik, dazu taugt der Autor des "Tonio Kröger" nun allerdings ganz gewiss nicht.

@Nuwas
Sie werden es mir bitte nachsehen, dass ich in einer literaturhistorischen Diskussion Wikipedia nicht als seriöse Argumentationsquelle betrachte.


Geschrieben

Zuerst zum Nebensächlichen,lieber Minotaurus. Überall hört man die Warnung vor Wikipedia. Diese ist ganz berechtigt bei allen politischen und weltanschaulichen Fragen. Tatsächliche Geschehnisse darf man ihr eigentlich vertrauensvoll abnehmen, da es hier um keine Frage der "politischen Korrektheit" geht. Sie übertreiben daher mit Ihrem wissenschaftlichen Purismus.
Ich weiß nicht, ob Ihnen vielleicht nicht in einsamen Nächten Bedenken kommen, die Ihre Alltagssicherheit des politisch Korrekten nicht zulässt. Über was sitzen Sie nicht alles zu Gericht: Thomas Mann,der seine Ejakulationen verzeichnet und ein völlig unzeitgemäßer "Patriarch" war. Sigmund Freud, tief mit uralter jüdischer Weisheit vertraut,ist bei Ihnen patriarchalischen Thesen "aufgesessen". Um Gottes willen, der ist keinem aufgesessen! Der denkt selbst, und wie kritisch,wie human! Paulus und alle Kirchenväter- ein Wisch,und sie sind bei Ihnen vom Tisch! Schwindelt Ihnen nicht gelegentlich, wenn Sie auf Ihren Hochgebirgspfaden die abendländische Geistesgeschichte so tief unter sich sehen, während Ihnen als Begleiterinnen Frau Schwarzer und vielleicht Frau Schavan zur Seite stehen, miteinander beschäftigt. Und dann Ihre Ausfälle gegen die Biologie, die Jahrhundertwissenschaft. Wenn deren Einsichten "Biologismus" sind, wie soll man die selbstbewusst vorgetragenen Ergebnisse gründlich umerzogenen,allseitswilligen Zeitgeistes nennen?
Nein, lieber Minotaurus,so beseitigen Sie die Fragen nicht, die mit der Existenz als Homosexueller verbunden sind.
Es geht hier nicht um Literaturgeschichte,jeder, der das liest, möge sich beteiligen und seine Sicht offen sagen!


Geschrieben

Mon dieu, lieber Nuwas,
wen attachieren Sie mir denn da auf Bildungspfaden? Ausgerechnet unser Annettchen, die Freundin unserer Angela in Berlin, und zusätzlich auch noch Alice. Bei allem Respekt vor Frau Schwarzers Leistung: Die penetrante Einseitigkeit von Alice hat mich schon immer gestört und tut es noch. Und dann mich noch der "political correctness" zu zeihen, das ist ein bißchen zuviel der schablonisierenden Zuordnung. Richtig ist allerdings, dass ich mir nach einem langen Lese- und Lernleben und angesichts einer noch immer sehr frischen intellektuellen Neugier die Freiheit nehme, liebgewordene Bildungsklischees zu zerpflücken und den Dingen auf den Grund zu gehen. Deswegen leiste ich es mir, die Goldrähmchenoptik auf große Künstler und Klassiker als weltfremden Firlefanz zu bezeichnen. Und dabei erschauere ich auch nicht in Ehrfurcht vor angeblich bedeutenden Zeitgenossen wie Rüdiger Safranski und seinem restlos verlogenen Buch über die vorgeblich enge Freundschaft zwischen Goethe und Schiller. Wer sich eingehender mit dieser Materie beschäftigt hat, weiß nur zu genau, welchen Unfug Safranski aus Marketinggründen da verbraten hat.

Nein, ich sitze nicht zu Gericht, das steht mir nicht zu. Aber es gehört nur wenig dazu, die patriarchalischen Grundtendenzen des literarischen Großmeisters Thomas Mann herauszufiltern. Seine Einstellung war durchaus zeitgemäß und den Ansichten des Bürgertums im 19. Jahrhundert geschuldet. Das ist gewiss nichts Ehrenrühriges, doch darf keineswegs übersehen werden, woher die männliche, väterliche und vaterrechtliche Dominanz und deren gesellschaftliche Akzeptanz im christlichen Abendland stammt. Das fängt eben bei Gottvater und Gottsohn an, wird von dem frauenfeindlichen Paulus ("mulier tacet in ecclesiam" ) noch wesentlich verstärkt, und von allen bedeutenden Theologen von Augustinus über Thomas von Aquin bis zu Karl Rahner fortgesetzt. Thomas Mann konnte sich offenbar nicht lösen von seinem patriarchalischen Weltbild, wenngleich er in seinem "Zauberberg" in langen Dialogen anderweitige Positionen erörtert.

Wie stark Sigmund Freud geprägt war von der christlich-jüdischen Vorstellungswelt, erhellt sich spätestens dann, wenn wir seine Überlegungen zu Moses und dem Monotheismus auf den Prüfstand stellen. Ja selbst in Freuds bahnbrechenden Ausführungen zur Sexualtheorie ist mehr als deutlich sein Glaube an die Unverrückbarkeit und Richtigkeit der männlichen Dominanz unübersehbar. Ein Wiederlesen der Freudschen Schriften hielte ich in diesem Zusammenhang für sehr sinnvoll.

Ich schrieb nicht von "Biologie" oder gar "Biologismus", sondern von "pseudobiologistisch". Es war noch Anfang des 20. Jahrhunderts in medizinischen Kreisen durchaus Usus, von der Annahme auszugehen (die bei Aristoteles ihren Ursprung hat!), der männliche Same werde aus Blut gebildet. Die Hochschätzung des Blutes (nicht nur im Abendmahl und beim vergossenen Blut der Märtyrer), und die sich daraus entwickelt habenden, teils stark rassistischen Ideologien kommen nicht von ungefähr. Ein Blick in die Kultur-, Sozial- und Religionsgeschichte der Menschheit kann manche liebgewordenen Irrtümer und Glaubensdogmen rasch beseitigen. Und in einen ähnlichen Zusammenhang müssen wir auch Thomas Manns verquere Haltung (siehe Thread-Anfang) zur Homoerotik einordnen. Es ist eben nicht nur die vom Christentum aller Konfessionen betriebene Leib-Seele-Spaltung des Menschen, die Körperlichkeit von vornherein als minderwertig erachtet (siehe den Beichtspiegel des Alphons de Liguori oder die Verdammung des Leibes bei Luther und Calvin), sondern die angebliche Unmännlichkeit des Homoerotikers, der sich weigert, den vatergöttlichen Auftrag zur Zeugung zu erfüllen und damit blasphemisch wird.

Nun hatte sich Th. Mann dieser Zeugungspflicht keineswegs entzogen, ja sogar ein bevölkerungspolitisches und damit "gottgefälliges" Übersoll erfüllt. Überdies jedoch ein erotisches Gefallen an jungen Männern sehr schmerzlich zu empfinden, das passte nicht in seine Patriarchensicht, weshalb er diese auch sexuell ausgerichteten Gefühle als zweitklassig einstufte, wider die Natur. Als Literat ist Mann ganz bestimmt zu beneiden; in seiner inneren Zerrissenheit aber, im Scheitern daran, die Widersprüchlichkeit in sich selbst zu akzeptieren, ist der Autor des "Doktor Faustus" wahrlich nur zu bedauern.


Geschrieben

Meine Herren Literaturwissenschaftler mögen Sie hier Ihren interessanten Streit über Hölderlin und Mann weiter ausfechten, uns gewöhnlichen Leser von Thomas Mann ging es doch in erster Linie um unterhaltsame Lektüre.
Doch in meiner Jugendzeit, als wegen des Verbots der Homosexualität, keine Möglichkeit gab sich über seine eigenen sexuellen Preferenzen zu orientieren, war es eine der Möglichkeiten in der Literatur nach Antworten, zu suchen. Dabei haben wir aber nicht nur Mann bevorzugt, sondern auch Hanns Henny Jahn und Albert Camus.
Ein Forum dieser Art wäre unmöglich gewesen, nicht nur wegen der technischen Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen. Es war geradezu unmöglich mit anderen über Homosexualtät zu reden. Nicht einmal der Bergiff war vielen bekannt. In Schulen und Elternhaus war das Thema Sex absolut tabu.


Geschrieben

@ Sunrise
Minotaurus und ich sind keine Literaturwissenschaftler.Ich habe auch gar nicht die Absicht gehabt (und jeder , der meine Beiträge hier ohne Vorurteil liest,sieht das), ein literatur- oder geistesgeschichtliches Geplänkel zu beginnen.-
Mir ging es gewissermaßen um Erfahrungsberichte aus erster Hand.Wie schätzt ihr eure Homosexualität ein?Wie kommt ihr damit zurecht? Seid ihr vielleicht sogar stolz darauf? Manns Zitat schien mir bedeutsam, weil er sich so differenziert äußert. Er spricht ja auch von Stolz und Freiheit dieser Liebe. Offensichtlich haben ihn seine Lebenserfahrung und das Schicksal seiner Kinder aber auch skeptisch gestimmt.
Ich habe nun in verschiedenen Threads die Erfahrung machen müssen, dass es außerordentlich schwer ist, die Problematik des Schwulseins hier zur Sprache zu bringen.Im Haus des Gehängten spricht man als höflicher Gast nicht vom Strick. So schallen einem nur die Jubelchöre der Söhne des Lichts (der Aufklärung)entgegen :"Ich bin stolz!" "Kein Problem!" "Alles im grünen Bereich!" "Auf zum fröhlichen Schwulsein!"- Dann seid und bleibt glücklich!Probleme und Unglück muss man ja auch nicht suchen. Mir kommen nur die Antworten hier kurzsichtig, ja verlogen vor .


Geschrieben

Die Journaille, die ihr Fähnlein gewöhnlich nach dem Willen der Mächtigen wehen lässt, scheut sich, wen wundert's, auch nicht, die Geistesgeschichte von Jahrtausenden im Lichte aktueller Moden und Strömungen zu beurteilen. Billige Tagesschriftsteller, deren Elaborate kaum einen Tag über das Datum ihrer Entstehung hinausweisen, haben sich zu allen Zeiten anheischig gemacht, die ehrwürdige Vergangenheit propagandistisch einer großartigen Zukunft zu opfern – welch letztere sich allerdings fortan meist als wahre Hölle erwies. Wenn nun ein hochgerühmter Verfasser bedeutender Rezensionen und Kritiken sich in diesem Forum derart aufspreizt, als stünde es ihm zu, Männer wie Paulus, Augustinus oder Thomas den Aquinaten mit der Gebärde des Hohepriesters zu wiegen und zu leicht zu befinden, so erfordert dies selbstverständlich entschiedenen Widerspruch. Es besteht nämlich der Verdacht, dass nicht die immerhin ehrenwerte Fertigkeit, "den Dingen auf den Grund zu gehen" und "liebgewordene Bildungsklischees zu zerpflücken", das Urteil jenes Verfassers leiten, sondern vielmehr das Wohlgefallen eines homosexuellen Mannes an sich selbst – also seine Eitelkeit; und die darf kein Werkzeug der Wahrheitsfindung sein.

Zeugen die Worte Thomas Manns noch von inneren Zweifeln, gar von innerer Verzweiflung angesichts der eigenen, die selbstgewählte bürgerliche Lebensform konterkarierenden Neigungen, so ist es heute selbstverständlich geworden, die eigenen physischen Obsessionen feucht-fröhlich zu bejahen – dies nicht etwa nach langem Ringen mit einer religiösen und ethisch-ästhetischen Tradition, sondern unter schlechthinniger, blöde-lüsterner Ausblendung derselben, getreu dem Motto: Ich sehe gut aus, wozu brauche ich Abitur? An die Stelle der Ethik rückt der Spaß, an die Stelle der Ästhetik die Geilheit, und wo früher religiöse Ehrfurcht war, steht jetzt das Grinsen des von käuflicher Unterhaltung Betäubten. Die Entrückung ins ewige Leben stellt sich der moderne, seiner selbst so gewisse "gay" als ewigen Orgasmus vor. Dieses Weltbild erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein Abbild der inneren Verfassung, demnach als voraussetzungsvolle Setzung dessen, was erst geprüft werden müsste. Das "Sein" wird unheroisch in ein "Sollen" gewandelt, jeglicher Einwand gegen eine solche gedankliche Untat ("naturalistischer Fehlschluss") wird als "leibfeindlich" denunziert; und leibfeindlich, also geistig, wird der nicht sein wollen, der Anteil am "Leben" haben möchte – Leben nicht als "Qualität" im Sinne Nietzsches, sondern als das Treiben der Bars, Saunen und dunklen Ecken gedacht.

Die sogenannte Leibfeindlichkeit dem Christentum, insbesondere Paulus, zuzuschieben, ist nun allerdings angesichts der vielen unterschiedlichen mystischen und asketischen Schulen und Richtungen auch außerhalb der Christenheit ein Unsinn ersten Ranges. Sich selbst zu vollenden, gottgleich zu werden, das Begehren, die Todesfurcht zu überwinden, indem die Welt der Fresser, Säufer und Hurenböcke eben nicht als die maßgebliche angesehen, sondern als die zur Lebensform gewandelte der einfachsten Bedürfnisse erkannt wird, die es zu bannen gilt, dieses Streben ist so alt, wie es menschliches Nachdenken über Leben und Tod, die ersten und die letzten Dinge gibt. Es ist sehr bequem, sich den Neigungen, die sich unmittelbar einstellen wie das Wetter, fraglos hinzugeben. Menschen früherer und anderer Kulturen haben diese Bequemlichkeit zweifellos ebenfalls erkannt und erfahren und sich doch gegen sie und für Gott und das Sittengesetz entschieden. Sie wussten sich in einer geschlossenen Tradition, die durch Aufklärung nicht zu brechen ist; erst wenn die Tradition ermüdet, setzt Aufklärung ein.

Der homosexuelle Mann, dessen Leben sich nicht in der Liebe zum anderen Geschlecht, in der Familiengründung und Zeugung entfalten kann, sondern das von der ständigen Jagd nach sexuellen Abenteuern, die er "Erfüllung", und kleinen erotischen Begegnungen, die er "Liebe" nennt, bestimmt ist, glaubt sich durch einen antibürgerlichen Gestus zu besondern, während er gleichzeitig innerhalb der bürgerlichen Welt Mimikry treibt. Dies ist sein innerer Konflikt, dem er nicht noch eine Auseinandersetzung um Wert und Würde leiblicher Genüsse hinzufügen mag. Daher kommt ihm eine Lehre, die als leibfeindlich verdammt, was die Sexualität von einem anderen Standort als dem des "natürlichen" betrachtet, gerade recht. Die Sexualität ist die Geschlechtlichkeit; ob sie der Zeugung diene oder dem allzumenschlichen Vergnügen, ob sie in ihrer veredelten Form den Menschen erhöhe oder ihn als allgegenwärtiger Dämon noch unter das Tier stelle – "natürlich" ist sie nie. Die "Natürlichkeit" der Sexualität ist das, was übrig bleibt, wenn man jede perspektivische Deutung von ihr nimmt; also das rein Biologische. Dieses ist aber wiederum nicht zu werten, sondern nur hinzunehmen. Das Tun des Menschen ist jedoch Wertung auf Schritt und Tritt; er kann nicht handeln, ohne zu werten, er kann nicht "natürlich" im Sinne Rousseaus sein, indem alles von ihm abgezogen werde, was je durch Gedankenarbeit zu jenem phantasierten homo naturalis hinzugekommen sein soll. Daher kann er auch keine "Sexualität" haben, die er nur noch bejahen muss, weil ihm ohnehin nichts anderes übrig bleibt, sondern er ist immer ein zwischen den Extremen Hin- und Hergetriebener: er errichtet gewaltige steinerne Phallen, dem Zeugungstrieb zu Ehren, und er kastriert sich selbst aus Ekel davor, ein geschlechtliches Wesen zu sein.

Die Geschlechtlichkeit als wirkungsmächtigste Leiblichkeit ist es, die den Menschen auf Schritt und Tritt daran erinnert, dass er mit einem Bein im Tierreich steht. Mit dem anderen Bein jedoch, kraft seiner Fähigkeit, das Unendliche zu denken, steht er im Reich der Götter. Sein höheres Streben, das sich ihn dem Ewigen nähern lässt, ist immer auf Überwindung der Leiblichkeit gerichtet; ob sie gelingt, ist eine andere Frage, aber sie ist sein Weg. Die Ausgestaltung dieses Weges, die Methode, ihn zu begehen, ist auf hundertfältige Art möglich. In Asien kennt man Übungsformen, die durch Schulung und Vervollkommnung des Leibes schließlich über das Menschlich-Irdische hinauszugelangen helfen: die äußerste Konzentration, der Zustand der Leere, die Überwindung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit sind das Ziel. Hinduisten und Buddhisten ist schwerlich "Leibfeindlichkeit" zu unterstellen, da sie das "Leib-Seele-Problem", welches im übrigen ein transzendentales und kein moralisches ist, überhaupt nicht auf gewohnte Weise ansprechen. Dieses ist ein Topos der abendländischen Philosophie des Geistes, beginnend mit Platon, jedoch schon in bedenklicher Nähe zur angeblichen christlichen "Leibfeindlichkeit" ausgeformt in Plotins Lehre vom Einen. Dass also der Leib sterblich, die Seele unsterblich sei, diese Einsicht verdanken wir ausgerechnet dem schönheitstrunkenen Volk der Griechen, auf das homosexuelle Männer sich so gern berufen. Wer die gesamte spirituelle Tradition des Abendlandes als "leibfeindlich" negiert, der möge sagen, was jener Leib ist, der da negiert wird, und wie er sich wohl frei von aller Negation zeigen wird; und er möge sagen, was an ihre Stelle treten soll. Da bleibt nicht mehr viel übrig, außer einigen Biologisten, Pragmatikern und dem einen oder anderen sich selbst überschätzenden Frauenzimmer.

Wer schließlich allen Ernstes vermeint, Jahrtausende mit einer Handbewegung vom Tisch wischen zu können, indem er Denker, denen er nicht einmal die Schuhriemen hätte lösen dürfen, in eine der unaufgeräumten Schubladen seines Verstandes einsortiert, der hat die Zugehörigkeit zu seiner sauberen Zunft allzu deutlich illustriert. In einem Gayforum mögen solche Ausführungen auf breite Zustimmung stoßen, legitimieren sie doch nicht nur eigene Geilheit und jegliche sexuelle Praktik, sondern befreien auch noch von der Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit jenen Denkern: die Journaille wird's schon richten. Wer aber bei sich selbst auf Randgebiete stößt, die nicht von schwellenden Genitalien beherrscht werden, der sei doch zu seriöserer Gedankenarbeit aufgefordert.

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